Die schönsten Geschichten schreibt immer noch das Leben. Eine Devise, die nicht erst kürzlich als Grundlage zahlreicher Hollywood-Produktionen dient und deshalb schon fast als hohle Phrase zu begreifen ist. Dass es im realen Leben aber tatsächlich solch schöne Geschichten gibt und diese auch noch auf angemessene Art und Weise im Kino erzählt werden können, zeigt das Drama Lion von Regisseur Garth Davis. Der Film basiert auf dem autobiographischen Buch A Long Way Home von Saroo Brierley, der 1986 als fünfjähriger Junge durch unglückliche Umstände in seiner Heimat Indien verlorenging und in einem Waisenhaus landete. Von dort adoptierte ihn ein liebevolles, australisches Ehepaar, das ihn mit auf den fünften Kontinent nahm und großzog. Erst 25 Jahre später spürte er mit Hilfe von Google Earth seinen Geburtsort auf, wo er schließlich seine eigentliche Familie tatsächlich wieder in die Arme schließen konnte.
Garth Davis beweist in seinem Spielfilm-Regiedebüt genau das richtige Gespür für die Tonart seines Werks. Wie leicht hätte die derart berührende und fast unglaubliche Lebensgeschichte Saroos in rührseligem Kitsch enden können. Der australische Regisseur geht jedoch mit überraschender Zurückhaltung und erfrischender Ruhe an die Buchverfilmung heran, die gerade deshalb sehr zu Herzen geht. Lion nimmt sich viel Zeit für die Charaktere und ihre Beziehungen untereinander. Besonders Saroos innige Verbindung zu seinem älteren Bruder Guddu ist das emotionale Fundament des Films, dem auch mit wenigen Worten viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ihre Beziehung wird vor allem im ersten Drittel von Lion beleuchtet, das ausschließlich in Indien spielt, was dem Zuschauer gleichzeitig erlaubt, tief genug in die Welt Saroos einzutauchen. Dessen Darsteller Sunny Pawar trägt in seinem Schauspieldebüt dieses erste Drittel dabei fast von alleine und stellt eine ähnliche, fantastische Neuentdeckung wie letztes Jahr Neel Sethi in The Jungle Book dar. Pawar reicht oft ein Blick oder ein zaghaftes Lächeln, um den Seelenzustand seines Charakters nach außen zu kehren, der von Unsicherheit und Furcht, aber auch von naiver Neugier geprägt ist. Zudem verleiht er dem Film eine große Portion Authentizität, die durch die tollen Aufnahmen der Originalschauplätze natürlich noch verstärkt wird.
Nachdem Garth Davis sich intensiv mit der Vorgeschichte Saroos beschäftigt, wagt er schließlich einen großen Sprung, der den Protagonisten nun als jungen Mann vorstellt. Hier darf sich fortan Dev Patel in der zweifellos besten Rolle seiner Karriere beweisen, die ihm nicht von ungefähr eine Oscarnominierung als Bester Nebendarsteller einbrachte. Sein Spiel passt sich dabei perfekt an die unaufgeregte Inszenierung des Regisseurs an.
Mit eindrucksvoller Souveränität meistert Patel die innerliche Zerrissenheit Saroos, dessen neues Leben sich für ihn wie Verrat an seiner Herkunft anfühlt. Die Erinnerungen an seine Heimat lösen in ihm belastende Schuldgefühle aus, die ihn an seiner wahren Identität zweifeln lassen, was ihn zu einer der interessantesten Figuren der jüngeren Filmgeschichte macht. Für die Menschen an dessen Seite fand Davis allerdings nicht durchweg eine glaubhafte Besetzung. Während die ebenfalls oscarnominierte Nicole Kidman als Adoptivmutter und Rooney Mara als Saroos Freundin Lucy routiniert wie eh und je agieren, wirkt hingegen David Wenham als Adoptivvater John leider fehl am Platz.
Dies reduziert jedoch nicht die emotionale Schlagkraft der Familienszenen, seien sie fröhlicher oder ernster Natur, die das Drama so außergewöhnlich machen. Überhaupt steckt in der Interaktion zwischen den Figuren die größte Stärke von Lion. Clever gliedert Garth Davis diese Sequenzen in die recht simple Struktur seines Films, ohne dabei den dramatischen Effekt erzwingen zu wollen. Den Höhepunkt stellt dann das Wiedersehen zwischen Saroo und seiner leiblichen Mutter dar, das kaum ergreifender hätte inszeniert werden können. Beinahe schon dokumentarisch kommt besagte Szene daher, in der Davis fast ausschließlich die Bilder sprechen lässt und sich dabei auf seine tollen Darsteller verlassen kann. Es ist schwer vorstellbar, dass dieser Leinwandmoment beim Großteil der Zuschauer keinen bleibenden Eindruck (und tränenreiche Gesichter) hinterlassen wird.
Der gemächlichen Inszenierung ist es allerdings auch geschuldet, dass Lion im Mittelteil etwas zäh wirkt und dadurch ein wenig an Dynamik verliert. So hätte der Film gerne zehn Minuten kürzer ausfallen dürfen. Alles in allem sollte Garth Davis aber höchster Respekt für die besonnene Herangehensweise an die Buchverfilmung gezollt werden. So verlieren die schönen Geschichten des Lebens auch auf der Leinwand nicht an Bedeutsamkeit.
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